Interreligiöse Studien

Judentum und Sozialismus. Eine konfliktuelle Beziehungsgeschichte

Mittwoch, 20.03.2024

Als traditionell verfemte und diskriminierte Minderheit, deren Emanzipation als gleichberechtigte Bürger sich meist als noch schwieriger erwies als für Christen sympathisierten Juden und Jüdinnen bis weit ins 20. Jahrhundert meistens mit den liberalen und linken politischen Kräften ihres Landes. Aus diesem Grund waren Menschen jüdischer Herkunft auch von Anfang an häufig prominent in den sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts herausbildenden sozialistischen Parteien vertreten. Innerhalb der sozialistischen (und auch sozialdemokratischen) Bewegung spielte zudem der in den meisten konservativen, bürgerlichen Parteien markante Antisemitismus kaum eine Rolle. Die teilweise herausragende Rolle von Politikern jüdischer Herkunft innerhalb der sozialistischen Parteien machte die politische Linke zur Zielscheibe antisemitischer Hetze, die häufig auch alle Jüdinnen und Juden als revolutionäre Aufwiegler brandmarkte. In der gesellschaftlich dominanten bürgerlichen Kultur um 1900, in der Antisemitismus als verinnerlichter kultureller Code weit verbreitet war, wurde die jüdische Minderheit je nach Opportunität als „kapitalistische Ausbeuter“ oder als „vaterlandslose Revolutionäre“ denunziert. Der politische Umbruch am Ende des Ersten Weltkriegs 1917/18 veränderte die politische Situation für einen Grossteil der europäischen Jüdinnen und Juden: Das Zarenreich, in dem bis zum Ende der Monarchie im Februar 1917 die jüdische Minderheit über keine vollen Bürgerrechte verfügte, wurde durch die Oktoberrevolution von 1917 zu einem formell sozialistischen Staat. Jüdinnen und Juden wren in den sozialistischen und revolutionären Parteien des Zarenreichs vergleichsweise stark vertreten und hatten nun die Möglichkeit das politische Leben der sich bildenden Sowjetunion mitzugestalten. Auch in der wieder neu entstandenen Republik Polen mit über 3 Millionen jüdischer Bürger erhielten diese nun die Möglichkeit, sich politisch frei zu entfalten. Zahlreiche der meist in bescheiden Verhältnissen lebenden Jüdinnen und Juden schlossen sich dem Allgemeinen Jüdischen Arbeiterbund, kurz „Bund“ genannt an, der für eine gerechtere Gesellschaft und für kulturelle jüdische Autonomie kämpfte. Der deutsche Genozid an den Juden im Holocaust zwischen 1941 und 1945 vernichtete diese osteuropäischen jüdischen Lebenswelten des „Bundes“. Der teilweise antisemitisch geprägte Terror Stalins bis zu seinem Tod 1953 zerstörte jüdisches Leben in der Sowjetunion sowie in im gesamten „Ostblock“ und führte zu einer weitgehenden Desillusionierung der jüdischen Minderheit mit dem kommunistischen Regime. Im 1948 neu gegründete Staat Israel waren jedoch gerade osteuropäische sozialistische Traditionen noch wirkungsmächtig. Die meisten der führenden Politiker der Gründergeneration des jüdischen Staates entstammten linkszionistischen Bewegungen, die sich Ende des 19. Jahrhunderts in Osteuropa gebildet hatten. Symbol für diesen sozialistischen Charakter des Landes wurden die Kibbuzim, in denen fast alle Bereiche des Lebens in solidarischer Gemeinschaft ausgeführt werden sollten und Privateigentum zunächst kaum existierte. Heute zeigt sich die politische Nähe zwischen Judentum und Sozialismus stark geschwächt: Die jüdischen Minderheiten in der Diaspora gehören meist dem Bürgertum an und sind sozial und gesellschaftlich integriert und in Israel dominiert ein religiös geprägter Nationalismus.

Dozierende(r): Dr. Daniel Gerson
20.03.2024:16:15 - 18:00
Ort:F 002, Seminarraum
Unitobler
Lerchenweg 32-36

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