Deutsche Sprach- und Literaturwissenschaft (German Studies)

Ergänzungskurs (Vorlesung) SW: Grammatikalisierung

Mittwoch, 20.03.2024

Die Grammatik einer Sprache wandelt sich langsamer als der Wortschatz. Und während neue Lexeme bisweilen Aufsehen erregen, vollzieht sich grammatischer Wandel eher im Verborgenen. Gerade das macht die Entstehung von Grammatik aber so interessant: Wie kommt es, dass sich bestimmte Formen in unser grammatisches System einschleichen? Ein Beispiel: Um etwas im Futur auszudrücken, ziehen wir (im Standard) das Hilfsverb ‘werden’ heran: ‘ich werde mitmachen’. ‘Werdan’ bedeutete im Althochdeutschen ‘sich wenden’. Keine der germanischen Schwestersprachen hat ein solches Verb grammatikalisiert. So bildet das Englische sein Futur mit ‘going to’ oder ‘will’, was semantisch nachvollziehbar ist: ‘gehen um X zu tun’ oder ‘X tun wollen’ kann leicht zum Ausdruck einer zukünftigen Handlung werden und tatsächlich zeigen viele Sprachen der Welt vergleichbare Entwicklungen. Auch in schweizerdeutschen Dialekten kommen für bevorstehende Handlungen Bewegungsverben zum Einsatz – s chunt cho rägne / s chunt go rägne. Mit der sog. Verbverdopplung liegt aber noch keine voll grammatikalisierte Futurform vor. In der Vorlesung werden die Grundkonzepte der Grammatikalisierungsforschung vorgestellt und an spannenden Fallbeispielen der deutschen Sprachgeschichte erläutert. Mit diesen theoretischen Instrumentarien kann man für Fälle wie die Schweizer Verbverdopplung das genaue Entwicklungsstadium feststellen. Dialekte spielen in der Veranstaltung eine wichtige Rolle, da sie gut erkennen lassen, welche alternativen Entwicklungen die deutsche Sprache hätte durchlaufen können oder vielleicht in naher Zukunft noch durchlaufen wird. Ebenfalls werden wir Sprachvergleiche mit germanischen Sprachen und den Sprachen der Welt einschliessen um zu beurteilen, wie (un)gewöhnlich die Entwicklungspfade des Deutschen sind. Die Veranstaltung eröffnet damit einen neuen Blick auf die Grammatik unserer Sprache und die Wandlungen, die sich vor unseren Augen vollziehen. Sie hilft, Grammatik nicht als statisches Regelwerk, sondern in ihrer verborgenen Dynamik zu begreifen. Mit diesem Verständnis sind nicht nur angehende Lehrer:innen bestens gerüstet, sondern alle, die mit Sprache oder über Sprache arbeiten (werden). Literatur - Tania Kuteva et al.: World Lexicon of Grammaticalization. Cambridge: University Press 2019. - Renata Szczepaniak: Grammatikalisierung im Deutschen: Eine Einführung. Tübingen: Narr 2011.

Dozierende(r): Prof. Dr. Luise Kempf
20.03.2024:10:15 - 12:00
Ort:EG, F 023, Hörraum
Unitobler
Lerchenweg 32-36

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